Herfried Münkler im Interview über die Rolle der EU in der neuen Weltordnung

Herfried Münkler

Herfried Münkler* ist am 24. Oktober zu Gast bei den „Kärntner Gesprächen zur demokratiepolitischen Bildung“ in der AK. Vorab sprach er mit uns über die gegenwärtigen Herausforderungen und Chancen für Demokratie und Europäische Union. 



In „Welt in Aufruhr“ (2023) beschäftigten Sie sich mit der Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Welche Rolle spielt die Europäische Union in dem wahrscheinlich multipolaren neuen System?

Die EU ist von ihrer wirtschaftlichen Potenz her einer der weltweit größten und wichtigsten Akteure. Ob sie das auf längere Sicht bleibt, wird von der Entwicklung in den nächsten Jahren abhängen, vom Standhalten gegenüber den chinesischen Exporten in den europäischen Markt und vom Innovationswettbewerb mit den USA. In einem aus fünf Zentralmächten bestehenden multipolaren System, einer Pentarchie, wird Europa also zunächst einmal zu den fünf Großen gehören. Ob es dabei bleibt, hängt aber nicht allein von wirtschaftlichen Fragen ab, sondern vor allem auch von der Fähigkeit der Europäer, sich in einen politisch handlungsfähigen Akteur zu verwandeln. Das wird nicht einfach werden, denn das heißt, dass es in der EU Führungsmächte geben wird und daneben solche, die eher folgen als führen. Und außerdem einen peripheren Gürtel, der so etwas wie eine vorgelagerte Schutzzone zur Entschleunigung und Kanalisierung von Migrationsbewegungen darstellt. Hierarchisierung und Peripherisierung werden an die Stelle des gleichen Stimmengewichts der EU-Mitgliedsländer treten, wenn denn die EU global eine Rolle spielen will. Sonst scheidet sie aus der Gruppe der großen Fünf aus, und ich befürchte, dass sie unter diesen Umständen auch zerfallen wird, weil die großen Staaten in der Union dann ihre eigene Politik betreiben werden. 

Was bedeutet die von Ihnen skizzierte neue Weltordnung für die Zukunft der Demokratie bzw. den liberal-demokratischen Rechtsstaat in der EU und in Österreich?

In der gegenwärtigen Situation ist davon auszugehen, dass es im Kreis der Fünf zwei Bänke geben wird: die der demokratischen Rechtsstaaten, auf der die USA und die EU Platz nehmen, und die der autoritären Autokratien mit China und Russland. Der fünfte Akteur wird wohl Indien als „Zünglein an der Waage“ und Repräsentant des globalen Südens sein. Wenn es leidlich friedlich zugehen soll, wird man sich über Einflusszonen verständigen, die zwischen Demokratien und Autokratien gezogen und im Großen und Ganzen akzeptiert werden. Ist das der Fall, kann man sich auf Regeln verständigen, die eingehalten werden, ohne dass es dafür eines „Hüters“ bedarf. Das heißt: Die Idee, die Demokratie werde sich demnächst wieder global durchsetzen, ist damit vorerst passé und muss politisch verabschiedet werden. Es kann freilich sein, dass Russland oder China aufgrund innerer Umwälzungen sich in Demokratien verwandeln, aber dafür gibt es derzeit keine Anzeichen. Deswegen sollten wir auch nicht darauf setzen. Wir, EU bzw. Österreich, werden genug damit zu tun haben, die Demokratie in unserem Innern zu erhalten. 

In Ihrem Buch „Die Zukunft der Demokratie“ (2022) – den Titel tragen auch die Kärntner Gespräche zur demokratiepolitischen Bildung 2024 – konstatieren Sie, dass die westliche Form der parlamentarischen Demokratie unter Druck steht. Worin bestehen die Gefährdungen und Bedrohungen der Demokratie gegenwärtig?

Was wir abkürzend Demokratie nennen, ist tatsächlich ein Kompositum, nämlich die Verbindung von demokratischer Ordnung und rechtsstaatlicher Bindung. Der Bürgerwille – oder jedenfalls der Wille einer Mehrheit – und dessen Bindung an langlebige Regeln stehen also in einem permanenten Konflikt zueinander. Das Recht, zumal die Verfassung, sichert die Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich die politische Partizipation der Bürger bewegt. Das ist seit den Anfängen der neuzeitlichen Demokratie im späten 18. Jahrhundert ein Spannungsverhältnis, das in guten Zeiten auf Ausgleich gepolt, aber in konfliktreichen Zeiten zum Zerreißen gespannt ist – und auch tatsächlich zerreißen kann. Das ist zurzeit der Fall. Der Populismus unserer Gegenwart kann als ein Aufstand des Augenblicks gegen die Kontinuität des Dauerhaften beschrieben werden, auch als Rebellion der emotionalen Stimmungen gegen die langfristigen Bindungen und Rationalitäten. Das ist – auch – eine Folge des medialen Wandels und der Beschleunigung der Zeit durch die sozialen Medien. Dieser Konflikt kann disruptiv enden, was auf das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen, hinausläuft, oder transformativ, indem neue Formen bürgerschaftlicher Partizipation gefunden werden, in denen die emotionale Erregtheit des Augenblicks gebändigt wird. Ansonsten hat sich die westliche Demokratie zurzeit auch gegen Infiltrationen von außen zu behaupten, vor allem gegen die Russlands, das versucht, eigene Gefolgschaften durch bestimmte Narrative zu organisieren, um den „Westen“ aufzulösen und in die eigene Botmäßigkeit zu bringen. Deren Anfang ist die „illiberale Demokratie“. 

Was braucht es, um die Lebensfähigkeit der liberalen Demokratie beizubehalten? Was kann die/der Einzelne tun, um die Demokratie zu stärken?

Demokratie lebt prinzipiell von der Partizipation der Bürger, ist also input-abhängig. Aber das geht nur gut, wenn eine Mehrheit der Bürgerschaft über politische Urteilskraft verfügt. Der erste Punkt ist also, dass Demokratie keine Ordnung ist, die wesentlich output-orientiert ist, weswegen Formeln wie „die Politik hat geliefert“ oder eben auch nicht, für den Verwaltungsstaat gelten mögen, aber nicht für die Demokratie. Aber politisches Engagement ist anstrengend und zeitraubend – und viele wollen oder können das nicht leisten. Und der zweite Punkt ist, dass eigentlich jeder an seiner politischen Urteilsfähigkeit arbeiten muss, um kompetent am Politikbetrieb teilzunehmen. Man muss also darüber nachdenken, wie Partizipation und Kompetenz der Bürger gesteigert werden können. Vielleicht dadurch, dass man die Wahl durch ein Losverfahren ergänzt. Das Los kann jeden treffen, und dann muss er zeigen, was er kann, und zwar konstruktiv und nicht nur als Schimpfender und missmutiger Denkzettel-Verteiler. Wenn jeder und jede in die Pflicht genommen werden können, wird es für jeden/jede Einzelne ernst. 

*Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a. „Die Zukunft der Demokratie“ (Brandstätter 2022) sowie „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ (Rowohlt 2023). Für letztere Publikation erhielt er 2024 den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch.  

 

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